AUSREICHEND ABSTAND

AUF DEN ABSTAND KOMMT ES AN. DAS WAR EINE DER SCHWIERIGEREN ÜBUNGEN FÜR MANCHE VON UNS. VON KINDESBEINEN AN SIND WIR DARAUF TRAINIERT, NÄHE ZU SUCHEN. „AUF DISTANZ GEHEN“ WURDE GLEICH GESETZT MIT ABSONDERUNG. UND NUN SOLLTE NÄHE PLÖTZLICH ALS RÜCKSICHTSLOS UND ASOZIAL GELTEN? JA, GENAU DAS! DAS MODEWORT DES SOCIAL DISTANCING VERSTÄRKTE DEN EINDRUCK, ALS WÜRDEN UNS WELTEN TRENNEN UND NICHT NUR EIN METER FÜNZIG...

In Deutschland gilt der Raum 60 Zentimeter um mich herum als „Intimsphäre“. In unserem Kulturkreis erlauben wir es üblicherweise nur engsten Freunden, der Familie oder dem Partner, näher als eine halbe Armlänge oder weniger zu kommen. Den Körperkontakt mit meinem privaten Umfeld empfinde ich als angenehm. Jeden anderen Eindringling in diese Zone empfinde ich als bedrohlich aggressiv oder zumindest aufdringlich. Ganz wenige Ausnahmen sind zugelassen: Der Händedruck zum Beispiel. Danach gilt wieder der Respektabstand. Wenn extrovertierte Persönlichkeiten uns auch mal näher kommen oder uns unaufgefordert berühren, empfinden manche von uns dies als zu viel.

Das hat der Forscher Edward T. Hall in den 1960er Jahren beim Vergleich interkultureller Kommunikation untersucht. Als zweiten Raum und mich herum hat er die „Privatsphäre“ ausgemacht. Diese persönliche Zone ist Bekannten oder Kollegen vorbehalten, die zwischen 60 und 100 Zentimeter nahe kommen dürfen. Der Abstand einer Armlänge ist die unsichtbare Grenze beim Smalltalk oder dem Verkaufsgespräch im Geschäft.

Fremde sollten sich mir in dieser Gesprächsdistanz von 60 bis 100 Zentimeter nur langsam nähern, wenn sie nicht auf Ablehnung treffen wollen. Im Lift, in der U-Bahn, in der Disco – oder beispielsweise in engen Wohnanlagen – gilt es dagegen als akzeptiert, den üblichen Abstand zu unterschreiten, mehr oder weniger notgedrungen. Dass dies bei manchen Menschen zu starkem Stress oder zumindest Unbehagen führt, lässt sich täglich an ihren Gesichtern beobachten, manchmal auch an spontanen Wutausbrüchen.

Die „soziale Zone“ reicht von 1,20 bis 3,60 Meter. Sie markiert den klassischen Abstand zu Fremden, zum Beispiel Wartenden am Bahnsteig. Wer so viel Abstand hält, belästigt niemanden. Mehr als 3,60 Meter Entfernung macht schließlich die öffentliche Zone aus. Hier bewegen wir uns als Zuschauer und kommunizieren in der Regel nicht miteinander.

Im arabischen Raum oder in Lateinamerika kommen sich die Menschen deutlich näher als bei uns. In Asien dagegen ist der Abstand bei der Begrüßung eher 20 bis 40 Zentimeter größer. In den meisten asiatischen Ländern gibt man sich auch nicht die Hand, sondern verbeugt sich voreinander. China ist hier eine Ausnahme.

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